“Das Wort Gottes wohne reichlich in Euch!” (Kol 3,16)
Wir bekennen uns zur Bibel als einziger Quelle des Glaubens. Das was Katholiken und Orthodoxe als Tradition bezeichnen, kommt als Glaubensquelle nicht in Frage, weil diese Überlieferungen nicht bis in die apostolische Zeit zurückgeführt werden können und häufig auch der Bibel widersprechen.
Es ist daher selbstverständlich, daß es in unseren gemeinsamen Gesprächen vor allem darum geht, die Bibel immer besser kennenzulernen und zu verstehen. Wir lehnen das fundamentalistische Verständnis, das auf der Lehre der Verbalinspiration beruht, ab, weil dieses Denken zwangsläufig zum Aufgeben des Verstandes führt, den uns Gott doch gerade dazu geschenkt hat, ihn immer besser zu verstehen. Ebenso müssen wir aber auch die liberale Theologie zurückweisen, die die Bibel zu einem menschlichen Machwerk reduziert. Überdies ist die Argumentationsweise liberaler Theologen oft alles andere als historisch oder kritisch sondern nur von der eigenen Ideologie bestimmt. Wir nehmen die Bibel nicht wörtlich aber ernst.
Gott hat sich so klar geoffenbart, daß ihn jeder, der ihn ernsthaft sucht, in seinem Wort auch finden wird. Der Wille Gottes ist für jeden erkennbar.
Der Vorwurf, daß wir die Bibel “wie eine Art Orakel” sehen, ist nicht nur unberechtigt, sondern widerspricht auch Herrn Kluges eigener Feststellung eines “relativ hohen theologischen Niveaus”. Aus diesem Kritikpunkt wird sichtbar, daß es ihm keinesfalls um objektive, hilfreiche Kritik geht, sondern um Verleumdung.
Wir lehnen jeden glückspielartigen Umgang mit der Bibel entschieden ab, wie etwa das Ziehen von Bibelstellen zu bestimmten Anlässen (z. B. Jahreswechsel). Dazu gehören auch die im evangelischen und freikirchlichen Bereich sehr beliebten Herrnhuter Losungen.
Wir wissen auch, daß die Bibel nicht “auf jede Frage eine genaue Antwort hat.” Einerseits ist klar, daß Gott in der Bibel alles zum Heil eines Menschen notwendige geoffenbart hat und wir keiner zusätzlichen Offenbarung oder Überlieferung bedürfen, um Gott und unser Heil zu finden. Andererseits gibt es aber viele Dinge auf die uns die Bibel keine eindeutige oder überhaupt keine Antwort gibt. Das betrifft auch viele Punkte der praktischen Lebensgestaltung. Deswegen ist auch der Vorwurf, daß wir “Lebensmodelle einiger christlicher Gemeinden des 1. Jahrhunderts unterschiedslos auf heutige Verhältnisse” übertragen, in sich schon unsinnig. Wir wissen in vielen Details einfach nicht, wie die ersten Christen ihr Leben gestaltet haben. Die summarischen Berichte der Apostelgeschichte zeigen uns nur einige Grundprinzipien. Aber vieles müssen wir in der heutigen Situation durch eigenes Nachdenken unter der Führung des Geistes erkennen. Wir sind keine “Bibelpositivisten” wie etwa die sogenannte “Gemeinde Christi”, die all ihre Handlungen positiv durch Stellen des NT begründen will.
Daß nur Kompetente, d. h. Verantwortliche die Bibel richtig verstehen und auslegen können, ist vielleicht in römisch-katholischen Lehrbüchern zu lesen. Unsere Lehre ist das nicht. Wir haben kein Auslegungsmonopol wie es das römisch-katholische Lehramt bzw. die Wachtturmgesellschaft für sich beanspruchen. Die Stärke bzw. Schwäche unserer Auslegung liegt in der Stärke bzw. Schwäche unserer für jedermann nachvollziehbaren Argumente.
Wir sind auch froh und dankbar dafür, daß Bibeln frei erhältlich sind, daß das katholische Monopol in Bezug auf die Bibel gebrochen wurde, daß heute niemand mehr wegen Besitzes einer nichtkatholischen Bibelausgabe des Landes verwiesen wird. Sicher: Die Bibel kann sich nicht wehren gegen ihre Fehlinterpretation und es ist sehr traurig, was manche Leute aus Gottes Wort gemacht haben und machen. Aber im freien Wettkampf der Meinungen und in einer offenen Diskussion zeigt sich, wo die Wahrheit ist.
Noch einige Worte zu den Bibelstellen, deren unrichtige Auslegung uns Herr Kluge vorwirft:
a) Zum unterschiedslosen Übertragen von Lebensmodellen einiger Gemeinden des 1. Jahrhundersts auf heutige Verhältnisse wurde schon Stellung genommen. Offensichtlich liegt Herrn Kluge das Thema “tägliches Treffen” schwer im Magen. Uns drängt Gottes Liebe dazu.
b) “Kirche als Gemeinde der Sünder”
Diese nicht existente Bibelstelle können wir mangels Existenz weder “allegorisch denken” noch “als zeitbedingt verwerfen” oder “wegdiskutieren”.
Andere tun das hingegen mit den Stellen, die von der Heiligkeit der Gemeinde sprechen, z. B.: Mt 18,15-18; 1. Kor 5,1-13; 2. Kor 6,14-7,1; Eph 1,4; 5,25-27; Kol 1,9-11.21-23; Offb 2,5; 3,15-16; 14,4-5 …
c) “Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet!” (Matthäus 7,1)
Jesus hat mit diesen Worten nicht gemeint, daß man das Falsche nicht mehr falsch nennen darf, auch nicht, daß man Sünder nicht ermahnen darf.
“Unser Wort (damit meint der Autor Mt 7,1), das von Gottes unverbrüchlichem Gericht redet, wird aufs Schlimmste mißdeutet, wenn man es immer wieder zum Anwalt sittlicher Laxheit macht. Gut bleibt gut und Böse bleibt böse.” (J. Schniewind, Das Evangelium nach Matthäus, 1964, S. 97)
Nach den Worten Herrn Kluges würde Jesus in Mt 23 andere jüdische Gläubige “recht hochmütig ablehnen”, ganz zu schweigen davon, wie Johannes der Täufer und zahlreiche alttestamentliche Propheten ihre Zeitgenossen auf das eindringlichste zur Umkehr ermahnt haben.
Was würde Herr Kluge wohl zu den Ausfälligkeiten und Beschimpfungen des “großen Reformators” Luther sagen?
Wie viele Menschen hat die “Kirche”, deren Priester Gerald Kluge ist, nicht nur mit Worten sondern auch mit Schwert oder Scheiterhaufen gerichtet?
Wir gehen auf klare Distanz zu diesen Verbrechen im Namen des Christentums, werden aber weiterhin das Gute gut und das Böse böse nennen.
Gerade weil Gottes Liebe zu den Menschen uns drängt, dürfen wir die Sünden nicht verschweigen.
“Ich hingegen, ich bin mit Kraft erfüllt durch den Geist des HERRN, und mit Recht und Stärke, um Jakob zu verkünden seine Verbrechen und Israel seine Sünde.” (Micha 3,8)
Im Zusammenhang von Matthäus 7 finden wir auch Vers 6:
“Gebt nicht das Heilige den Hunden; werft auch nicht eure Perlen vor die Schweine, damit sie diese nicht etwa mit ihren Füßen zertreten und sich umwenden und euch zerreißen.”
Gerade dieser Vers setzt voraus, daß wir zu beurteilen haben, wer für Gottes Wort offen ist und wer nicht.
Wir müssen uns aber immer bewußt sein, daß der Maßstab, den wir an andere anlegen, auch an uns angelegt wird. Jesus lehnt in Mt 7,1-5 so wie Paulus in Röm 2,1 die Haltung ab, daß jemand andere verurteilt, selber aber das selbe tut, worin er den anderen kritisiert. Wir wollen nicht nur die anderen, sondern uns selbst umso mehr mit Gottes Maßstab messen.
“Wenn die Voraussetzungen für das Richten und Urteilen geklärt sind, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen (5). Sind sie nicht geklärt, wird der überhebliche und heuchlerische (vgl. 5) Mensch ein gerichteter Richter.” (H. Frankenmölle, Matthäus Kommentar 1, 1994; S. 262-263)
“Wie mir wenigstens scheint, befiehlt der Herr hier nicht einfach, überhaupt keine Sünde zu richten, und verbietet dies nicht so ohne weiteres, sondern nur denen, die selbst mit tausenderlei Sünden beladen sind und dennoch andere wegen ganz unbedeutender Fehler beunruhigen. Außerdem glaube ich, daß er auch die Juden hier im Auge hatte, weil diese ihre Mitmenschen in liebloser Weise wegen harmloser und unbedeutender Dinge anklagten, selbst aber ohne Gewissensbedenken die größten Sünden begingen.” (Chrysostomos, Matthäus-Kommentar, 23. Homilie)
Wichtig zum Verständnis von Matthäus 7 ist auch folgender Satz Pauli:
“Ein natürlicher Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird. Der geistliche dagegen beurteilt zwar alles, er selbst jedoch wird von niemand beurteilt.” (1. Korinther 1,14-15)
Diese Worte sind nicht Ausdruck menschlichen Hochmuts sondern geistliche Realität bei denen, die sich unter die Hand Gottes gedemütigt haben und so vom Geist Gottes die Urteilskraft erhalten haben, alles zu beurteilen. Auch wenn uns Herr Kluge vielleicht den Heiligen Geist abspricht, so muß er doch eingestehen, daß der Geist Gottes nach dem Zeugnis der Schrift diese Urteilskraft gibt. Herr Kluge urteilt ja auch ziemlich kräftig über uns, ohne zu bedenken, daß vieles, was er bei uns als sektiererisch bezeichnet, in seiner Kirche als Tugend gelobt wird. Vielleicht sollte sich unser Kritiker selber im Lichte von Mt 7,1 prüfen.
d) Römer 14
Der Zusammenhang ist eindeutig die Stellung zum jüdischen Gesetz. Die Schwachen sind hier nicht die, die am Alkohol hängen oder von der Zigarette nicht loskommen… Die Schwachen von Röm 14 sind die, die noch die Ritualgebote des AT halten, weil sie noch nicht die volle Tragweite der Erlösung durch Jesus erkannt haben. Sie hätten beim Ignorieren der Speisegebote gegen ihr Gewissen gehandelt und wären in eine gefährliche Zwickmühle gekommen, die Paulus ihnen ersparen wollte.
Die Situation ist völlig anders, wenn heute jemand seine Sünden nicht aufgeben will, oder biblisch nicht begründbare Lehren vertritt. Diese Leute sind nicht schwach sondern böse.
Falls jemand aber wirklich ernsthaft gegen seine Sünden kämpft und mitunter auch fällt, dann ist Geduld angebracht. Das gebietet die Liebe zum Bruder unabhängig von Röm 14.
Daß es in Röm 14 um die Frage des Haltens des Gesetzes geht, zeigt der Zusammenhang mit Kapitel 15 und wird auch von verschiedenen Kommentaren so gesehen.
e) Lukas 15,3-7 // Matthäus 18,12-14
Die von Herrn Kluge angeführte Deutung dieser Gleichnisse ist nicht die der Gemeinde. Natürlich läßt sich die Frage stellen, ob ein normaler Hirte wegen eines Schafes 99 andere zurückläßt. Auch Joachim Jeremias schreibt: “Die Landeskenner Palästinas bezeugen übereinstimmend, daß es völlig ausgeschlossen ist, daß ein Hirt seine Herde einfach ihrem Schicksal überläßt. Wenn er ein verlorenes Tier suchen muß, übergibt er die Herde den Hirten, die mit ihm die Hürde teilen (Lk 1,8; Joh 10,4f), oder er treibt seine Herde in eine Höhle.” (Joachim Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Kurzausgabe, 11. Auflage 1996, S. 90-91)
Jesus wollte Gottes große Liebe darstellen, die über das unter den Menschen übliche Maß hinausgeht und sich auch derer annimmt, die von den Menschen üblicherweise abgeschrieben sind. Für den von Herrn Kluge angeführten Fall stellt sich aber die Frage, ob dieses Gleichnis den richtigen Lösungsansatz bietet.
Herrn Kluges Kommentar, daß es in der Gruppe nicht üblich sei, “sich weiter um Leute zu bemühen, die auf den ersten Kontakt nicht angebissen haben. Diese hätten ihre Chance vertan.”, sei die Tatsache gegenüber gestellt, daß es unter uns einige Geschwister gibt, die “nicht sofort angebissen haben.” Aber wir arbeiten eben nicht mit psychologischem Druck sondern lassen den Menschen, die (noch) zu wenig Interesse haben, Freiraum, das Gehörte zu überdenken. Die Bekehrung eines Menschen ist nicht das Werk menschlicher Psychologie sondern das Wirken Gottes.
Zum Kanon: Wir erkennen den alttestamentlichen Kanon an, den Jesus als Jude Palästinas hatte (d. h., wir lehnen die von Katholiken und Orthodoxen anerkannten Apokryphen, bei ihnen beschönigend “deuterokanonisch” genannt, ab) und ebenso den seit Athanasius allgemein anerkannten christlichen Kanon des Neuen Testaments.
Es ist keine Frage, daß nicht alle Bücher die selbe Wichtigkeit haben. Natürlich ist das Johannesevangelium ungleich bedeutsamer als etwa die Stammbäume in 1 Chr 1-8.
Oberste Norm unseres Kanons ist Jesus Christus. Deswegen ist es unmöglich, Bücher, die Jesus nicht als Heilige Schrift kannte oder anerkannte, als Heilige Schrift des Alten Bundes anzuerkennen. In diesem Punkt haben sich sowohl die römisch-katholische als auch die orthodoxe Organisation über Jesus erhoben und apokryphe Schriften als Altes Testament bezeichnet. Bei den Katholiken handelt es sich konkret um die Bücher Tobit, Judith, 1. + 2. Makkabäer, Weisheit, Jesus Sirach und Baruch, ferner um Zusätze zu den Büchern Esther und Daniel. Durch Beschluß des Konzils von Trient erlangten diese Bücher im 16. Jahrhundert kanonische Bedeutung, da die Katholiken meinten, dadurch eine “biblische” Begründung für manche ihrer von den Protestanten abgelehnten Sonderlehren (Gebet für Tote 2 Makk 12; Engelsverehrung Tobit) zu finden. Keines dieser Bücher wurde je von einem Juden und schon gar nicht von Jesus als Heilige Schrift anerkannt. Die erste christliche Kanonliste für das AT (Meliton von Sardes) kennt diese Bücher nicht. Auch Hieronymus und Athanasius haben sie verworfen. Mit dieser Lehre hat die katholische “Kirche” sich nicht nur über Jesus sondern auch einen wichtigen Teil ihrer eigenen Tradition hinweggesetzt.
Mit der Aufnahme des Buches Baruch ist es ihnen sogar “gelungen” ein Werk zum Alten Testament zu erklären, welches erst nach dem Jahre 70 und somit später als alle Schriften des NT geschrieben wurde, und das außerdem noch eine antichristliche Polemik enthält (Bar 3,37 4,4 stellt dem fleischgewordenen Logos das jüdische Gesetz entgegen, das dort als “die Weisheit” bezeichnet wird, die “auf Erden erschien und unter den Menschen verkehrte”. Diese Stelle wendet sich auch gegen Heidenmission: “Gib deinen Ruhm keinem anderen preis und dein Glück keinem fremden Volke!”)
Auch das Buch Tobit mit seiner Propagandierung heidnischer Bräuche (Anmerkung der Pattloch-Bibel zu Tob 6,7-9: “Räucherwerk verwendete man in assyrisch-babylonischen Religionen gern zur Abwehr böser Dämonen”) ist in der Bibel fehl am Platze.
Wir halten im Gegensatz dazu am alttestamentlichen Kanon fest, wie ihn die Jünger vom Volk Israel übernommen haben und der auch der Kanon Jesu war.
Darum ist auch das Buch Kohelet (= Prediger) eindeutig Teil des Alten Testaments, obwohl dessen Kanonizität von den Juden gegen Ende des ersten Jahrhunderts in Jamnia diskutiert wurde und dieses Buch auch im NT nicht zitiert ist. Das Inspirationsverständnis dieses Buches bietet gewisse Schwierigkeiten, da Stellen wie folgende sicher nicht als direktes Wort Gottes verstanden werden können:
“Denn das Geschick der Menschenkinder und das Geschick des Viehs sie haben ja ein und dasselbe Geschick ist dies: wie diese sterben, so stirbt jenes, und einen Odem haben sie alle. Und einen Vorzug des Menschen vor dem Vieh gibt es nicht, denn alles ist Nichtigkeit. Alles geht an einem Ort. Alles ist aus dem Staub geworden, und alles kehrt zum Staub zurück. Wer kennt den Odem der Menschenkinder, ob er nach oben steigt, und den Odem des Viehs, ob er nach unten zur Erde hinabfährt?” (Prediger 3,18-21)
“Besser Verdruß als Lachen; denn bei traurigem Gesicht ist das Herz in rechter Verfassung.” (Prediger 7,3)
“Sei nicht allzu gerecht und übertrieben weise! Warum sollst du Enttäuschung erfahren? Frevle nicht allzusehr und sei kein Tor! Warum sollst du sterben vor deiner Zeit?” (Prediger 7,16-17)
“Und da fand ich nun bitterer als den Tod die Frau, da sie ein Fangnetz ist und ihr Herz eine Falle, Fesseln ihre Arme. Wer Gott gefällt, entkommt ihr, aber der Sünder wird gefangen durch sie.” (Prediger 7,26)
“Ja, wer noch zugesellt ist der Gesamtheit der Lebenden, für den gibt es noch Hoffnung; denn ein lebender Hund ist besser daran als ein toter Löwe! Denn die Lebenden wissen, daß sie sterben, die Toten aber wissen schlechthin nichts. Es gibt für sie keinen Lohn mehr; denn ihr Andenken wird vergessen. Ihr Lieben, ihr Hassen und ihr Eifern ist schon längst vergangen. Sie haben für immer keinen Anteil mehr an allem, was geschieht unter der Sonne.” (Prediger 9,4-6)
Die Lösung ist wohl in einer interessanten literarischen Konzeption zu finden. Der (unbekannte, höchstwahrscheinlich nachexilische) Autor gibt im Rahmen einer literarischen Fiktion die Gedanken des von Gott abgefallenen Salomo wieder, um die Grenzen des menschlichen Denkens ohne Gott aufzuzeigen.
So finden wir in diesem Buch zwar tiefe menschliche Weisheit, letztlich aber doch nur die Resignation: “Alles ist Nichtigkeit” (Pred 1,2 und öfters). Der Mensch ohne Gott kann den tiefsten Sinn des Lebens mit Gott nicht ergründen.
In Pred 1,12-2,26 wird, ohne den Namen Salomos zu nennen, dessen Leben dargestellt, auch ein Hinweis auf seinen großen Harem, der nach 1 Kön 11,1-13 seinen Abfall verursachte, ist zu finden (Pred 2,8). Salomo suchte die Freude und fand sie nicht. Ohne Gott blieb sie ihm verschlossen.
So ist dieses Buch eine interessante Form der Warnung vor dem Abfall!
Die Schlußverse (12,8-14), die nach Ansicht zahlreicher Theologen von anderer Hand hinzugefügt wurden, versuchen diese Weisheit doch noch irgendwie in den rechtgläubigen Rahmen einzufügen. Aber die sinnvollste Erklärung bleibt die oben angeführte.
Es war auch schon Erklärern früherer Zeiten klar, daß vieles im Buch Kohelet nicht von Gott kommen kann. So bringt etwa Gregor der Gr. in den Dialogen IV/4 die Erklärung, daß “der Volksredner” manches “im Sinne der fleischlichen Versuchung anführt.”
Es sei nur kurz festgehalten, daß für uns die Frage des genauen Verständnisses von Kohelet keine dogmatische Frage ist. Wir beurteilen normalerweise religiöse Gruppierungen nicht nach deren Verständnis des Buches Kohelet. Solange jemand nicht behauptet, daß die oben zitierten widergöttlichen Aussagen eine Weisung Gottes sind, oder dieses Buch wie Adventisten und Zeugen Jehovas zur Begründung von Irrlehren (Leugnung der unsterblichen Seele) verwendet, sind verschiedene Erklärungsmöglichkeiten akzeptabel.
Wir suchen keinen Kanon im Kanon. Dieser Begriff trifft vielmehr auf Martin Luthers Einstellung zu, der aufgrund seiner eigenen eingeengten Rechtfertigungslehre eigenmächtig einzelne Bücher ablehnte.
So schrieb er über den Hebräerbrief:
“Über das bietet er eine große Schwierigkeit dadurch, daß er im 6. und 10. Kapitel die Buße den Sündern nach der Taufe stracks verneinet und versagt …, was wider alle Evangelien und Briefe des Paulus ist… Deshalb soll uns nicht hindern, ob vielleicht etwas Holz, Stroh oder Heu mit untergemenget werde, sondern will wollen solche feine Lehre mit allen Ehren aufnehmen, nur daß man sie den apostolischen Briefen nicht in allen Dingen gleichstellen soll…” (Vorrede zum Hebräerbrief, 1522)
über den Jakobusbrief:
” … daß er stracks wider Paulus und alle andere Schrift den Werken die Rechtfertigung zuschreibt und sagt, Abraham sei aus seinen Werken gerechtfertigt worden …
… Aber dieser Jakobus tut nicht mehr, als zu dem Gesetz und seinen Werken treiben, und wirft eins so unordentlich ins andere, daß mich dünkt, es sei irgendein guter, rechtschaffener Mann gewesen, der etliche Sprüche von den Jüngern der Apostel aufgenommen und so aufs Papier geworfen hat … Er nennet das Gesetz ein Gesetz der Freiheit, obwohl es Paulus doch ein Gesetz der Knechtschaft, des Zorns, des Tods und der Sünde nennet ..
… Was Christus nicht lehret, das ist nicht apostolisch, wenns gleich Petrus oder Paulus lehret; umgekehrt, was Christus predigt, das ist apostolisch, wenns gleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes täte. …
… In Summa: er hat denen wehren wollen, die sich auf den Glauben ohne Werke verließen und ist für diese Sache an Geist, Verstand und Worten zu schwach gewesen. Er zerreißt die Schrift und widersteht damit Paulus und aller Schrift, wills mit Gesetz Treiben ausrichten, was die Apostel mit Anreizen zur Liebe ausrichten. Darum will ich ihn nicht in meiner Bibel in der Zahl der rechten Hauptbücher haben, will aber damit niemand wehren, daß er ihn stelle und hochhalte….
… wie sollte dieser Einzelne nur allein wider Paulus und alle andere Schrift gelten?” (Vorrede zum Jakobusbrief, 1522)
über die Offenbarung des Johannes:
“… Mir mangelt an diesem Buch verschiedenes, so daß ichs weder für apostolisch noch für prophetisch halte…
Auch gibt es keinen Propheten im Alten Testament, geschweige den im Neuen, der so ganz durch und durch mit Gesichten und Bildern umgehe, daß ich (die Offenbarung des Johannes) bei mir fast dem vierten Buch Esra gleich achte und in allen Dingen nicht spüren kann, daß es von dem heiligen Geist verfaßt sei….
… und ist mir Ursache genug, daß ich sein nicht hochachte, daß Christus drinnen weder gelehret noch erkannt wird…” (Vorrede zur Offenbarung Johannes, 1522)
Es steht jedem frei, sich selber ein Urteil zu bilden, wer hier von einem Kanon im Kanon spricht, wer sich anmaßt, zu beurteilen, “was Christus predigt”, wer die Grenzen seines Verstandes (oder seines Hochmuts?) zum Maßstab über die Schrift erhoben hat.
Zur Frage nach eigener Literatur: Die Offenbarung ist abgeschlossen. Deshalb bleibt die Bibel, die einzige Literatur, die für uns Autorität ist. Wir haben es uns nicht zum Ziel gesetzt, eigene Literatur zu produzieren. Die aktive eigenständige Beschäftigung jedes einzelnen mit der Bibel hat Vorrang.